Nerds take back the Web!

Als ich vor einem knappen Dreivierteljahr RAWstock mit diesem privaten Teil der Seite begann, war die Sache noch einfach. Mittlerweile wird alles immer komplizierter. Eine nerdistische Betrachtung.

Damals bzw. "damals", denn es liegt ja erst einige Monate zurück, waren es nur wenige Menschen, die meine Zeilen lasen. Menschen, die mich kennen, um meine Ängste und Unsicherheiten wissen, die aber auch meinen sehr zynischen Humor einordnen können. Bestimmte Blogeinträge konnte ich einfach in dem Wissen schreiben, dass sie verstanden werden.

Kränkung als Grundmotiv

Mittlerweile - und das ist eigentlich erfreulich, greifen selbst auf diesen Blog vornehmlich Menschen aus Rostock zu, die mich persönlich nie gesehen haben. Daraus ergeben sich leider auch neue Probleme. Das ist keine Redewendung, keine Floskel - es gab in den letzten Monaten mehrfach Momente, die einem im Innersten tief verletzen.

Sei es durch Menschen ohne Humor, die einem Zeter und Mortio an den Hals wünschen, nur weil sie den zynischen Subtext eines Blogeintrag zwar nicht verstehen, sich aber prophylaktisch erst einmal gekränkt fühlen. Oder aber vermeintlich empörte Personen, deren erster Satz am Telefon "Ich hab ja nichts gegen die Meinungsfreiheit, aber ..." lautet.

Anarchie als Attitüde

In beiden Fällen - und es sind nicht die Einzigen - wird mir eines zunehmend klar: Es gibt zu viele Menschen, die von Selbstbewusstsein reden, aber im Grunde nur über einen autoritären Charakter verfügen. Der einst anarchischen Raum, den Nerds mit Weltentrückung ausfüllten, wird nun von den ganz normalen Biedermeiern beherrscht, die von Gier, Angst und Schaulust getrieben werden.

Während sich diese Menschen bis zum Jahrtausendwechsel noch darauf beschränkten, Pornos zu schauen, proklamieren sie nun das Netz als etwas "normales" und "alltägliches". Es folgen Web 2.0, Zentralisierung der Webdienste und eine Kommerzialisierung, die das Netz in den letzten fünf Jahren sehr verändert haben. Das einst "Anarchisch-Unkomplizierte" wird auf eine Attitüde reduziert, die ihren Ausdruck in "Finde ich Gut"-Buttons und TV Shows mit Sascha Lobo findet.

Nerds take back the Web!

Das alles soll an dieser Stelle keine direkte Anklage sein, auch wenn ich eine "Nerds take back the Web!"-Aktion persönlich sehr unterhaltsam finden würde. Das Einzige, was ich anzweifel ist, dass derzeit einfach nur eine "Normalisierung" des Netzes stattfindet, es sich nach seinen chaotischen Anfängen nun zu einem breiten Massenmedium gewandelt hat. Das trifft auch zu - darüber hinaus findet aber noch mehr statt.

Derzeit lässt sich, gemessen an den Milliarden Nutzern, vergleichsweise wenig Geld im Netz verdienen. Der Wettbewerb ist entsprechend hart und begünstigt nur zu oft jene, die ein autoritäres Gemüt besitzen. Das sind am Ende aber alles kleine Fische, protegiert durch ein heimarbeitendes SEO-Prekariat. Das wirklich große Ding findet dort statt, wo Netzdienste zentralisiert und zum Quasi-Standard erhoben werden. Facebook kills the StudiVZ-Star. Das klappt bislang noch nicht so recht, aber ich bin mir sicher, clevere Marketingstrategen arbeiten Hand in Hand mit Abmahnanwälten an tragfähigen Lösungen.

Rettet die Ausdrucksmöglichkeiten

Als kleiner Blogger desillusioniert mich das alles schon. Und ja, natürlich war ich vor zehn-, fünfzehn Jahren noch illusioniert! Nicht der Mauerfall oder der 11. September war das prägende Erlebnis in meinem historischen Bewusstsein, es war das knatternde Modem, das mir als 14 jährigen zum ersten Mal nackte Frauen und neue Ausdrucksmöglichkeiten zeigte.

Es war eine Parallelwelt, sicher mit pathologischen Zügen, aber es war ein Raum, in dem man sich ausprobieren konnte. Und es war der einzige Raum in jener niedersächsischen Provinz und jenen spezifischen Lebensumständen, den ich dazu zur Verfügung hatte. Heutzutage aber ist das Netz Teil der Realität geworden - und giftet an zuvielen Stellen mit dem biederen Zeitgeist dieser Jahre.

Nerds take back the Web.